Chance vertan? – Apg 16, 23-34
23 Nachdem sie ihnen viele Schläge gegeben hatten, warfen sie
sie (Paulus und Silas) ins Gefängnis mit der Anweisung an den
Gefangenenwärter, sie sicher zu hüten. 24 Der legte sie auf diese
Anweisung hin in das innere Gefängnis und spannte ihnen die
Füße ins Holz. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas
und priesen Gott. Die Gefangenen aber hörten ihnen zu. 26
Plötzlich aber kam ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern
des Gefängnisses wankten; und mit einem Schlag sprangen alle
Türen auf, und allen fielen die Fesseln ab. 27 Als aber der
Gefangenenwärter aufwachte und die Türen des Gefängnisses
offen stehen sah, zog er das Schwert und wollte sich selbst
umbringen, in der Meinung, die Gefangenen seien entflohen. 28
Paulus aber rief laut: „Tu dir kein Leid an, wir sind alle noch da.“ 29
Da forderte er Lichter, sprang hinein und fiel mit Zittern dem
Paulus und Silas zu Füßen 30 und führte sie hinaus und sagte: „Ihr
Herren, was muß ich tun, um gerettet zu werden?“ 31 Sie aber
sprachen: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du gerettet
werden und auch dein Haus.“ 32 Und sie verkündeten ihm das
Wort Gottes samt allen in seinem Hause. 33 Und er nahm sie zu
sich in dieser Nachtstunde und wusch sie von den Schlägen. Und
er wurde mitsamt seinen Leuten sofort getauft. 34 Und er führte
sie in seine Wohnung, ließ ihnen den Tisch decken und jubelte mit
seinem ganzen Hause, daß er an Gott zu glauben gelernt hatte.
(Übersetzung: Heinrich Weizsäcker, Textbibel, 1906, bearbeitet
von A.L.)
Wenn diese Geschichte verfilmt worden wäre, dann dürfte vorab
der Warnhinweis nicht fehlen: Die folgenden Szenen enthalten
Bilder von körperlicher oder psychischer Gewalt, die für Kinder
nicht geeignet sind. Denn im Gefängnis von Philippi tobt sich die
nackte Gewalt aus. Und die Geschichte nimmt am Schluß eine
völlig unerwartete Wandlung: Eben noch waren Paulus und Silas
das Opfer von sinnloser Gewalt, von schwerer Folter und
aussichtsloser Kerkerhaft. Doch nun redet der Gefangenenwärter
sie als „ihr Herren“ an – als sei nichts gewesen.
Die Erzählung über Paulus und Silas in ihrer Gefängniszelle
zeigt auf ganz vielfältige Weise, was es heißt zu glauben. Dabei
machen die beiden im Gefängnis von Philippi alles falsch, was
man nur falsch machen kann. Jedenfalls in unseren Augen. Als
ihnen unverhofft die Freiheit winkt, bleiben sie einfach in ihrer
Zelle hocken. Wer würde jetzt nicht fliehen, wenn er sich doch
nach Freiheit sehnt im Kerkerloch? Nach allem, was den beiden
angetan wurde?
Eine alte Weisheit der Küchenpsychologie lautet: Nichts ärgert
uns so sehr im Leben wie verpaßte Chancen. Sich als machtlos zu
erfahren im Leben, auf der Seite der Verlierer zu stehen, das ist
schon schlimm genug. So mögen sich Paulus und Silas gefühlt
haben, als sie halbtot in ihre Gefängniszelle geworfen wurden.
Aber das ist noch auszuhalten.
Doch Chancen ungenutzt verstreichen zu lassen, das rächt
sich. Das macht krank. Das verzeihen wir uns nie, daß wir das
Glück nicht beim Schopf gepackt haben, als sich uns die
Möglichkeit bot, nach oben zu kommen. Auf die Sonnenseite des
Lebens zu wechseln. Mit allem finden wir uns ab im Leben, nur
nicht mit der eigenen Unfähigkeit, die Gunst des Augenblicks zu
nutzen.
Dumm genug also, wer sich so anstellt wie Paulus und Silas
nach dem nächtlichen Erdbeben. Denen ist nicht mehr zu helfen.
Wer nimmt nicht alles mit, was er kriegen kann? Egal ob es ein
günstiges Geschäft ist oder die Gelegenheit, irgendeine staatliche
Vergünstigung, einen Steuervorteil noch zusätzlich
einzustreichen: Nichts liegen lassen. Wenn ich es nicht mache,
macht es ein anderer. Und das verzeihe ich mir nie, Gelegenheiten
nicht zu nutzen. So verteidigt gerade der amerikanische Präsident,
daß er vom Wüstenstaat ein Luxus-Flugzeug als Geschenk
angenommen hat.
Nicht so Paulus und Silas. Sie wissen gar nicht, wie ihnen
geschieht. Selber überrascht sind sie von ihrem unverhofften
Glück. Jetzt müssen sie es nur noch beim Schopf packen. Die
Chance kommt nie wieder. Jetzt können sie aus dem Knast
türmen. Doch die nächtliche Geschichte geht anders aus. Keiner
nutzt die Gelegenheit zur Flucht.
Soll das Glauben sein? Auf Wunder hoffen und dann noch
nicht mal was draus machen? Ist doch klar, wenn so manche die
ganze Sache mit Gott dann für blanken Unsinn halten und Glaube
und Kirche den Rücken kehren. Jeder würde sofort verschwinden
aus dem Gefängnis.
Spektakuläre Gefängnisausbrüche sind so ganz nach unserem
Geschmack. Doch für solche Geschichten brauchen wir die Bibel
nicht. Diese Geschichte hier hat noch mehr zu bieten. Denn Paulus
und Silas denken ja weiter. Ihre Aufgabe ist noch nicht erfüllt.
Nicht sie und ihr ungewöhnliches Schicksal stehen im Mittelpunkt.
Vielmehr geht es um das, was sie daraus machen. Und das ist
etwas anderes als was wir erwarten würden.
Der Glaube unterbricht unseren Alltag und spiegelt ihn nicht
nur wider. Das wäre viel zu schlicht, wenn Christen sich in nichts
von anderen Menschen unterscheiden. Vielmehr gibt der Glaube
dem Leben eine neue Richtung. Ich muß nicht mehr mitlaufen im
Trott der anderen. Ich kann es mir leisten, auch mal auszuscheren
und eben nicht alles mitzunehmen, was ich kriegen kann. So
jedenfalls kann ich mir Paulus und Silas auch zum Vorbild
nehmen.
Die einen sehen nur die verpaßten Chancen – die anderen läßt
das kalt, weil es ihnen um viel mehr geht im Leben. Um die
Überwindung von Gewalt zum Beispiel und darum, den täglichen
Kampf aller gegen alle abzuschaffen. Und als Christen würden wir
hinzufügen: Es geht uns darum, möglichst viele Menschen zum
Glauben an Jesus Christus zu führen. Denn nur der Glaube gibt die
Kraft, auch mal absehen zu können von sich und dem eigenen
Vorteil.
Das hat der namenlose Aufseher gelernt in jener
wundersamen Nacht. Von ihm erzählt die Geschichte aus Philippi
eigentlich – von ihm und davon, wie er buchstäblich über Nacht zu
einem anderen Menschen geworden ist: zum Christen. Auch das
hätten die Dichter der deutschen Romantik wie E.T.A. Hoffmann
nicht besser erzählen können. Durch schaurig-schöne Schrecken
führt der Weg zu einem besseren Leben.
Denn gleich doppelt jagt es dem Gefangenenwärter Schauer
über den Rücken. Schlimm genug, daß es mitten in der Nacht ein
schweres Erdbeben gibt. Da wackelt die Wand.
Vor mehr als dreißig Jahren geschah genau das auch bei uns.
Damals wohnte ich in Marburg in Hessen und wurde ebenfalls
gegen Morgen von einem Riesenknall wach. Im Schrank klirrten
die Gläser. Ein Erdbeben entlang des Rheingrabens, das auch in
Hessen zu spüren war. Zum Glück hat es damals keinen großen
Schaden angerichtet.
Der erste Gedanke des Gefangenenwärters: Jetzt herrscht
Fluchtgefahr! Das Gefängnis ist eingestürzt, und alle Häftlinge
suchen das Weite. Seine Vorgesetzten würden ihm das zur Last
legen, denn er ist der Aufseher. Da bleibt nur eins: Vor Scham will
er sich sogleich ins Schwert stürzen. Selbstmord aus Angst vor
Strafe. Besser tot als in den Augen seiner Vorgesetzten als
Versager dazustehen und die Konsequenzen zu tragen.
Doch bevor er vor den offenen Toren des Gefängnisses aus
Verzweiflung Hand an sich legen kann, hört er Paulus und Silas
rufen: Mach dir keine Sorgen, wir sind alle noch da. Gefahr
gebannt – Gefahr für Leib und Leben dieses Gefängnisaufsehers.
So erzählt diese Geschichte vom Glauben: vom großherzigen
Auftreten des Missionars Paulus und seines Begleiters Silas. Sie
mögen sich freuen über den glücklichen Zufall. Doch sie denken
nicht in erster Linie an sich selbst, sondern an ihren Peiniger. Ihn
hätte das nächtliche Erdbeben beinahe das Leben gekostet. Doch
durch sie und ihr ungewöhnliches Verhalten ist er noch einmal
davongekommen.
Was rührt ihn nun mehr an: dieses Erdbeben oder die
Großherzigkeit seiner Gefangenen? Ungewöhnlich ist beides. Und
beides zusammengenommen krempelt sein Leben um. Dabei wird
mit keiner Silbe erwähnt, wem er all das zu verdanken hat: Gott.
So wird er zum Christenmenschen. Wieder so eine Geschichte von
einer wundersamen Verwandlung. Wie schon bei Paulus selber,
der vom eifernden Christenverfolger Saulus zum eifrigen
Missionar Paulus wird. Doch muß es immer gleich so spektakulär
sein, wie es die Apostelgeschichte aus den Anfängen des
Christentums gleich mehrmals erzählt?
Vor einer Woche stellte die Wochenzeitung „Die Zeit“ gerade
einen der profiliertesten konservativen Denker der USA vor. Ross
Douthat schreibt in der „New York Times“ regelmäßig über
Glaubensfragen und hat jetzt ein Buch veröffentlicht mit dem Titel
„Glaube – Warum jeder religiös sein sollte“. Von sich selber sagt
der Katholik, daß er im wundersüchtigen evangelikalen
Christentum aufgewachsen ist. Da erzählen Menschen
Geschichten wie die von Paulus und Silas – und von dem
Kerkermeister, der sich mit seiner ganzen Familie nach jener
Nacht umgehend taufen läßt. Wie der Glaube das Leben eines
Menschen vom Kopf auf die Füße stellt, das ist die Erfahrung einer
einzigen Nacht. Nichts ist mehr so wie zuvor. Davon erzählen
Menschen auch heute noch. Von solchen einschneidenden
Erfahrungen mit Gott.
Wen sollen wir also mehr bewundern in dieser Geschichte aus
Philippi: den brutalen und kaltblütigen Kerkermeister, der über
Nacht zum mitfühlenden Christen wird und seine eben noch
verachteten Gefangenen plötzlich als „ihr Herren“ anredet? Oder
doch Paulus und Silas, die ihren Glauben überzeugend leben
mitten im tiefsten Elend?
Sie zeigen uns, wie der Glaube sich bewährt, wenn er von den
Höhepunkten solch einschneidender Erlebnisse herunterkommt
ins alltägliche Leben. Wenn er nicht nur ein Schönwetterglaube
ist, von dem wir erwarten, daß er uns mit Gottes Hilfe vor Not und
Elend bewahren möge. Auch mittendrin, mitten in höchster
Gefahr für Leib und Leben, singt er noch sein Lied – wie Paulus
und Silas nachts in der Gefängniszelle.
Gott zu loben in fröhlicher Runde so wie vor kurzem auf dem
Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover fällt natürlich
leicht. An Gott noch festzuhalten, wenn es richtig dicke kommt wie
in der Gefängniszelle, das ist die Kunst. Denn das Leben ist immer
eine Achterbahnfahrt. Doch dann zeigt sich, ob Christenmenschen
auch nicht anders leben als alle anderen. Oder ob unser Glaube,
ob Gott selber, unser Leben auf einen ganz neuen Grund stellt,
Tag für Tag. Die Frage stellt sich immer wieder neu für jeden von
uns.
Pastor Dr. Andreas Lüder
23 Nachdem sie ihnen viele Schläge gegeben hatten, warfen sie
sie (Paulus und Silas) ins Gefängnis mit der Anweisung an den
Gefangenenwärter, sie sicher zu hüten. 24 Der legte sie auf diese
Anweisung hin in das innere Gefängnis und spannte ihnen die
Füße ins Holz. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas
und priesen Gott. Die Gefangenen aber hörten ihnen zu. 26
Plötzlich aber kam ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern
des Gefängnisses wankten; und mit einem Schlag sprangen alle
Türen auf, und allen fielen die Fesseln ab. 27 Als aber der
Gefangenenwärter aufwachte und die Türen des Gefängnisses
offen stehen sah, zog er das Schwert und wollte sich selbst
umbringen, in der Meinung, die Gefangenen seien entflohen. 28
Paulus aber rief laut: „Tu dir kein Leid an, wir sind alle noch da.“ 29
Da forderte er Lichter, sprang hinein und fiel mit Zittern dem
Paulus und Silas zu Füßen 30 und führte sie hinaus und sagte: „Ihr
Herren, was muß ich tun, um gerettet zu werden?“ 31 Sie aber
sprachen: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du gerettet
werden und auch dein Haus.“ 32 Und sie verkündeten ihm das
Wort Gottes samt allen in seinem Hause. 33 Und er nahm sie zu
sich in dieser Nachtstunde und wusch sie von den Schlägen. Und
er wurde mitsamt seinen Leuten sofort getauft. 34 Und er führte
sie in seine Wohnung, ließ ihnen den Tisch decken und jubelte mit
seinem ganzen Hause, daß er an Gott zu glauben gelernt hatte.
(Übersetzung: Heinrich Weizsäcker, Textbibel, 1906, bearbeitet
von A.L.)
Wenn diese Geschichte verfilmt worden wäre, dann dürfte vorab
der Warnhinweis nicht fehlen: Die folgenden Szenen enthalten
Bilder von körperlicher oder psychischer Gewalt, die für Kinder
nicht geeignet sind. Denn im Gefängnis von Philippi tobt sich die
nackte Gewalt aus. Und die Geschichte nimmt am Schluß eine
völlig unerwartete Wandlung: Eben noch waren Paulus und Silas
das Opfer von sinnloser Gewalt, von schwerer Folter und
aussichtsloser Kerkerhaft. Doch nun redet der Gefangenenwärter
sie als „ihr Herren“ an – als sei nichts gewesen.
Die Erzählung über Paulus und Silas in ihrer Gefängniszelle
zeigt auf ganz vielfältige Weise, was es heißt zu glauben. Dabei
machen die beiden im Gefängnis von Philippi alles falsch, was
man nur falsch machen kann. Jedenfalls in unseren Augen. Als
ihnen unverhofft die Freiheit winkt, bleiben sie einfach in ihrer
Zelle hocken. Wer würde jetzt nicht fliehen, wenn er sich doch
nach Freiheit sehnt im Kerkerloch? Nach allem, was den beiden
angetan wurde?
Eine alte Weisheit der Küchenpsychologie lautet: Nichts ärgert
uns so sehr im Leben wie verpaßte Chancen. Sich als machtlos zu
erfahren im Leben, auf der Seite der Verlierer zu stehen, das ist
schon schlimm genug. So mögen sich Paulus und Silas gefühlt
haben, als sie halbtot in ihre Gefängniszelle geworfen wurden.
Aber das ist noch auszuhalten.
Doch Chancen ungenutzt verstreichen zu lassen, das rächt
sich. Das macht krank. Das verzeihen wir uns nie, daß wir das
Glück nicht beim Schopf gepackt haben, als sich uns die
Möglichkeit bot, nach oben zu kommen. Auf die Sonnenseite des
Lebens zu wechseln. Mit allem finden wir uns ab im Leben, nur
nicht mit der eigenen Unfähigkeit, die Gunst des Augenblicks zu
nutzen.
Dumm genug also, wer sich so anstellt wie Paulus und Silas
nach dem nächtlichen Erdbeben. Denen ist nicht mehr zu helfen.
Wer nimmt nicht alles mit, was er kriegen kann? Egal ob es ein
günstiges Geschäft ist oder die Gelegenheit, irgendeine staatliche
Vergünstigung, einen Steuervorteil noch zusätzlich
einzustreichen: Nichts liegen lassen. Wenn ich es nicht mache,
macht es ein anderer. Und das verzeihe ich mir nie, Gelegenheiten
nicht zu nutzen. So verteidigt gerade der amerikanische Präsident,
daß er vom Wüstenstaat ein Luxus-Flugzeug als Geschenk
angenommen hat.
Nicht so Paulus und Silas. Sie wissen gar nicht, wie ihnen
geschieht. Selber überrascht sind sie von ihrem unverhofften
Glück. Jetzt müssen sie es nur noch beim Schopf packen. Die
Chance kommt nie wieder. Jetzt können sie aus dem Knast
türmen. Doch die nächtliche Geschichte geht anders aus. Keiner
nutzt die Gelegenheit zur Flucht.
Soll das Glauben sein? Auf Wunder hoffen und dann noch
nicht mal was draus machen? Ist doch klar, wenn so manche die
ganze Sache mit Gott dann für blanken Unsinn halten und Glaube
und Kirche den Rücken kehren. Jeder würde sofort verschwinden
aus dem Gefängnis.
Spektakuläre Gefängnisausbrüche sind so ganz nach unserem
Geschmack. Doch für solche Geschichten brauchen wir die Bibel
nicht. Diese Geschichte hier hat noch mehr zu bieten. Denn Paulus
und Silas denken ja weiter. Ihre Aufgabe ist noch nicht erfüllt.
Nicht sie und ihr ungewöhnliches Schicksal stehen im Mittelpunkt.
Vielmehr geht es um das, was sie daraus machen. Und das ist
etwas anderes als was wir erwarten würden.
Der Glaube unterbricht unseren Alltag und spiegelt ihn nicht
nur wider. Das wäre viel zu schlicht, wenn Christen sich in nichts
von anderen Menschen unterscheiden. Vielmehr gibt der Glaube
dem Leben eine neue Richtung. Ich muß nicht mehr mitlaufen im
Trott der anderen. Ich kann es mir leisten, auch mal auszuscheren
und eben nicht alles mitzunehmen, was ich kriegen kann. So
jedenfalls kann ich mir Paulus und Silas auch zum Vorbild
nehmen.
Die einen sehen nur die verpaßten Chancen – die anderen läßt
das kalt, weil es ihnen um viel mehr geht im Leben. Um die
Überwindung von Gewalt zum Beispiel und darum, den täglichen
Kampf aller gegen alle abzuschaffen. Und als Christen würden wir
hinzufügen: Es geht uns darum, möglichst viele Menschen zum
Glauben an Jesus Christus zu führen. Denn nur der Glaube gibt die
Kraft, auch mal absehen zu können von sich und dem eigenen
Vorteil.
Das hat der namenlose Aufseher gelernt in jener
wundersamen Nacht. Von ihm erzählt die Geschichte aus Philippi
eigentlich – von ihm und davon, wie er buchstäblich über Nacht zu
einem anderen Menschen geworden ist: zum Christen. Auch das
hätten die Dichter der deutschen Romantik wie E.T.A. Hoffmann
nicht besser erzählen können. Durch schaurig-schöne Schrecken
führt der Weg zu einem besseren Leben.
Denn gleich doppelt jagt es dem Gefangenenwärter Schauer
über den Rücken. Schlimm genug, daß es mitten in der Nacht ein
schweres Erdbeben gibt. Da wackelt die Wand.
Vor mehr als dreißig Jahren geschah genau das auch bei uns.
Damals wohnte ich in Marburg in Hessen und wurde ebenfalls
gegen Morgen von einem Riesenknall wach. Im Schrank klirrten
die Gläser. Ein Erdbeben entlang des Rheingrabens, das auch in
Hessen zu spüren war. Zum Glück hat es damals keinen großen
Schaden angerichtet.
Der erste Gedanke des Gefangenenwärters: Jetzt herrscht
Fluchtgefahr! Das Gefängnis ist eingestürzt, und alle Häftlinge
suchen das Weite. Seine Vorgesetzten würden ihm das zur Last
legen, denn er ist der Aufseher. Da bleibt nur eins: Vor Scham will
er sich sogleich ins Schwert stürzen. Selbstmord aus Angst vor
Strafe. Besser tot als in den Augen seiner Vorgesetzten als
Versager dazustehen und die Konsequenzen zu tragen.
Doch bevor er vor den offenen Toren des Gefängnisses aus
Verzweiflung Hand an sich legen kann, hört er Paulus und Silas
rufen: Mach dir keine Sorgen, wir sind alle noch da. Gefahr
gebannt – Gefahr für Leib und Leben dieses Gefängnisaufsehers.
So erzählt diese Geschichte vom Glauben: vom großherzigen
Auftreten des Missionars Paulus und seines Begleiters Silas. Sie
mögen sich freuen über den glücklichen Zufall. Doch sie denken
nicht in erster Linie an sich selbst, sondern an ihren Peiniger. Ihn
hätte das nächtliche Erdbeben beinahe das Leben gekostet. Doch
durch sie und ihr ungewöhnliches Verhalten ist er noch einmal
davongekommen.
Was rührt ihn nun mehr an: dieses Erdbeben oder die
Großherzigkeit seiner Gefangenen? Ungewöhnlich ist beides. Und
beides zusammengenommen krempelt sein Leben um. Dabei wird
mit keiner Silbe erwähnt, wem er all das zu verdanken hat: Gott.
So wird er zum Christenmenschen. Wieder so eine Geschichte von
einer wundersamen Verwandlung. Wie schon bei Paulus selber,
der vom eifernden Christenverfolger Saulus zum eifrigen
Missionar Paulus wird. Doch muß es immer gleich so spektakulär
sein, wie es die Apostelgeschichte aus den Anfängen des
Christentums gleich mehrmals erzählt?
Vor einer Woche stellte die Wochenzeitung „Die Zeit“ gerade
einen der profiliertesten konservativen Denker der USA vor. Ross
Douthat schreibt in der „New York Times“ regelmäßig über
Glaubensfragen und hat jetzt ein Buch veröffentlicht mit dem Titel
„Glaube – Warum jeder religiös sein sollte“. Von sich selber sagt
der Katholik, daß er im wundersüchtigen evangelikalen
Christentum aufgewachsen ist. Da erzählen Menschen
Geschichten wie die von Paulus und Silas – und von dem
Kerkermeister, der sich mit seiner ganzen Familie nach jener
Nacht umgehend taufen läßt. Wie der Glaube das Leben eines
Menschen vom Kopf auf die Füße stellt, das ist die Erfahrung einer
einzigen Nacht. Nichts ist mehr so wie zuvor. Davon erzählen
Menschen auch heute noch. Von solchen einschneidenden
Erfahrungen mit Gott.
Wen sollen wir also mehr bewundern in dieser Geschichte aus
Philippi: den brutalen und kaltblütigen Kerkermeister, der über
Nacht zum mitfühlenden Christen wird und seine eben noch
verachteten Gefangenen plötzlich als „ihr Herren“ anredet? Oder
doch Paulus und Silas, die ihren Glauben überzeugend leben
mitten im tiefsten Elend?
Sie zeigen uns, wie der Glaube sich bewährt, wenn er von den
Höhepunkten solch einschneidender Erlebnisse herunterkommt
ins alltägliche Leben. Wenn er nicht nur ein Schönwetterglaube
ist, von dem wir erwarten, daß er uns mit Gottes Hilfe vor Not und
Elend bewahren möge. Auch mittendrin, mitten in höchster
Gefahr für Leib und Leben, singt er noch sein Lied – wie Paulus
und Silas nachts in der Gefängniszelle.
Gott zu loben in fröhlicher Runde so wie vor kurzem auf dem
Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover fällt natürlich
leicht. An Gott noch festzuhalten, wenn es richtig dicke kommt wie
in der Gefängniszelle, das ist die Kunst. Denn das Leben ist immer
eine Achterbahnfahrt. Doch dann zeigt sich, ob Christenmenschen
auch nicht anders leben als alle anderen. Oder ob unser Glaube,
ob Gott selber, unser Leben auf einen ganz neuen Grund stellt,
Tag für Tag. Die Frage stellt sich immer wieder neu für jeden von
uns.
Pastor Dr. Andreas Lüder