Glauben und zweifeln – Joh 20, 19-20+24-29
19 Es war am Abend jenes ersten Tages der Woche – die Jünger
hatten, wo sie waren, die Türen aus Furcht vor den Juden
verschlossen -, da kam Jesus, trat in die Mitte und sagte zu ihnen:
„Friede sei mit euch!“ 20 Und dabei zeigte er ihnen die Hände und
die Brust. Da freuten sich die Jünger, daß sie den Herrn sahen.
24 Thomas aber, einer von den Zwölfen, ´Zwilling` genannt, war
nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Die anderen Jünger sagten nun
zu ihm: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Er aber sagte zu ihnen:
„Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und
meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in
seine Seite lege, so glaube ich nicht.“
26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger wieder drinnen und
Thomas bei ihnen. Jesus kommt, obwohl die Türen verschlossen
waren, trat in die Mitte und sagte: „Friede sei mit euch!“ 27 Dann
sagt er zu Thomas: „Leg deinen Finger hierher und schau meine
Hände an, und nimm deine Hand und lege sie in meine Seite, und
sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“ 28 Thomas antwortete ihm:
„Mein Herr und mein Gott.“ 29 Jesus sagt zu ihm: „Weil du mich
gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch
glauben.“
(Übersetzung: Ludger Schenke, 1998, bearbeitet von A.L.)
Alles könnte so einfach sein. Hätte Thomas, der ungläubige
Jünger, doch nur bedacht, was kurz vor Ostern Johanna Haberer
und Sabine Rückert ihren Leserinnen und Lesern ans Herz gelegt
haben. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ erklären die beiden
Schwestern seit langem die Bedeutung der großen christlichen
Feste, jedes Jahr aufs Neue. „Kann der Mensch sich ändern?“,
fragten sie diesmal zum Osterfest. Die eine war
Theologieprofessorin, die andere ist noch Redakteurin dieser
Zeitung. Um grundlegende Veränderungen im Leben eines
Menschen sollte es diesmal zu Ostern gehen. Doch ob das den
Zeitungslesern die Auferstehung von Jesus am Ostermorgen
näher bringt?
Ihren Zeitungsartikel über die Suche des Menschen nach sich
selbst beginnen sie mit allerlei biblischen Personen, die eine
Kehrtwende in ihrem Leben erfuhren. Das berühmteste Beispiel
ist natürlich der wutschnaubende Christenverfolger Saulus, der
zum eifrigen Missionar Paulus wurde. Doch der „ungläubige
Thomas“ ist nicht dabei. Schade!
Hätte Thomas nach Ostern im Kreis der anderen noch
verbliebenen Jünger vielleicht geholfen, was Johanna Haberer und
Sabine Rückert aus ihren langen Gedankengängen schlußfolgern?
„So wie der Mensch sich selbst denkt, so kann er auch werden“,
schreiben sie am Ende ihres Zeitungsartikels. „Was er für möglich
hält, wird eintreten. Sein Wille ist frei, weil er ihn sich frei denkt.
Auch das ist eine Vorstellung von Ostern, eine Idee der
Auferstehung. Wir tun also gut daran, gut von uns selbst zu
denken.“
Wenn es danach ginge, wäre Thomas ein widerspenstiger
Spielverderber. Zu bequem, um sich vom Ostergeschehen
mitreißen zu lassen wie die anderen Jünger. Zu blöde ist er, um zu
kapieren, wie er sich den peinlichen Auftritt vor Jesus nach der
Auferstehung erspart hätte. „Sei nicht ungläubig, sondern
gläubig“, weist Jesus ihn zurecht. Da liegt der ganze Aufwand mit
dem Ertasten der vorzeigbaren Nägelmale in den Händen von
Jesus und der Schnittwunde unter dessen Brustkorb schon hinter
den beiden. Das alles wäre überflüssig gewesen, wenn Thomas
nur beherzigt hätte, was Johanna Haberer und Sabine Rückert für
Ostern halten: sich selbst neu erfinden und glauben, was man
wirklich glauben will. Danach ist alles nur eine Frage der eigenen
Anstrengung. Denn „so wie der Mensch sich selbst denkt, so kann
er auch werden.“ Das gilt auch für gläubige Menschen – oder für
ungläubige. Wofür braucht es dann noch den neuerlichen Besuch
des auferstandenen Jesus im Kreis seiner Jünger, um Thomas
mühsam zu überzeugen? Thomas hätte sich doch nur einen Ruck
geben müssen.
Ist der Glaube nur eine Frage unseres freien Willens? Geht es
nur darum, unsere Vorstellungskraft, unsere Phantasie, auf Trab
zu bringen, wie Johanna Haberer und Sabine Rückert schreiben?
Dann wäre die ganze Welt des christlichen Glaubens nur eine gut
ausgedachte Märchenwelt, eine unter vielen. Mag doch jeder sich
diejenige heraussuchen, die zu ihm paßt. Oder auch gar keine.
Thomas hätte es sich auch viel leichter machen können.
Warum nicht einfach dem Herdentrieb folgen und geräuschlos
weiterhin mitmachen? Wenn alle anderen Jünger davon überzeugt
sind, daß Jesus nicht im Grab verblieb, dann will ich nicht aus der
Reihe tanzen. Auch das wäre eine Einstellung zum
Ostergeschehen gewesen – und sie war lange Zeit geachtet. Denn
zu glauben, was die Kirche glaubt, galt jahrhundertelang als gut
christlich. Allerdings kam solch ein Glaube je länger desto mehr
auch in Verruf. Schließlich dreht man sich dabei auf Dauer doch
nur im Kreis. Und da ist vom Glaubenszwang späterer
Jahrhunderte und dem Kampf dagegen noch gar nicht die Rede.
Wie auch immer: Thomas blieb vorerst skeptisch und gab den
Spielverderber. Den Erzählungen der anderen Jünger traut er
nicht. Das birgt natürlich die Gefahr, daß sie sich von ihm
verabschieden. Wer will sich schon von einem einzelnen Zweifleraufs Glatteis führen lassen, wenn er sich gerade freigestrampelt
hat von der Schmach von Golgatha und wieder nach vorne
schauen kann? Wieder wäre ein Jünger auf der Strecke geblieben.
Der Verräter Judas hatte sich vor Scham zuvor bereits das Leben
genommen.
Doch es kam anders. Jesus hat mit seinem Tod am Kreuz die
Jünger nicht im Stich gelassen. Er ist bei ihnen, auch jetzt. Das
haben sie erfahren, als sie beieinandersaßen und Jesus sie
besucht hat. Nur einer nicht: Thomas war an jenem Abend nicht
dabei. Dumm gelaufen!
So erzählt es das Johannesevangelium. Als ginge es immer so
weiter mit den Zeichen und Wundern, seitdem Jesus auf der
Hochzeit zu Kana Wasser in Wein verwandelt hatte. Dabei war er
nach dem Johannesevangelium doch mit den Worten gestorben:
„Es ist vollbracht.“ Für was braucht es da noch den Streit um die
Auferstehung? Beinahe hätte das bereits den Jüngerkreis
gespalten und damit den Glauben an den Gottessohn Jesus
Christus womöglich gleich wieder ausgelöscht. Damit wäre
niemandem gedient. Das kann auch Gott nicht gewollt haben.
Darum läuft alles ganz anders. Was das Johannesevangelium
zum Schluß noch erzählt, begeistert mich immer wieder neu. Die
Widerrede von Thomas gegen alle anderen Jünger spaltet
keineswegs deren Gemeinschaft. Weder lassen die anderen
Thomas fallen noch straft Gott ihn für seine Zweifel ab. Allein das
dient auch uns noch als Vorbild für die Gemeinschaft in unseren
Kirchengemeinden. Zweifel sind erlaubt, und die Zweifler muß
niemand ausgrenzen, nur weil sie nicht einfach mit der Mehrheit
mitlaufen. Die Zweifel und Anfragen anderer Christen müssen
nicht zwangsläufig meinen Glauben infragestellen. An dem Punkt
tun sich manche Christen bis heute schwer.
Dieses selbstsichere, aber auch großzügige und duldsame
Auftreten gerät in unseren Tagen gerade unter die Räder. Wer
nicht bedenkenlos mitmacht, wird häufig ausgegrenzt. Die
Rechthaber setzen sich lautstark durch und fordern unbedingte
Gefolgschaft, nicht nur unter Verschwörungstheoretikern und
politischen Extremisten. Schon ist zu hören, nur die Kirchen
hielten in unserer Gesellschaft noch dagegen. Nur die Christen
und Christinnen achteten noch auf das Verbindende unter ihren
Mitmenschen und grenzten niemanden vorschnell aus. Allein
schon darum werden sie noch gebraucht, heißt es dann. Ein
schönes Kompliment! Das tröstet die Kirchen trotz sinkender
Mitgliederzahlen.Und auch Gott behält die Geduld. Er läßt die Zweifel von
Thomas gelten und gibt ihnen nach. Auch dem ungläubigen
Jünger Thomas erscheint der auferstandene Jesus, und das wirkt
wie eine exklusive Sondervorstellung. Thomas bekommt, was er
als Beweis einfordert. Den anderen Jüngern hatte Jesus seine
Nägelmale und die Stichwunde im Brustkorb gezeigt; Thomas darf
sogar noch mehr als sie. Wie gewünscht darf er diese
Verletzungen sogar berühren. Was sollte noch überzeugender
wirken als dieser Beweis dafür, daß der Gast im Kreis der Jünger
der gekreuzigte und auferstandene Jesus ist, der Gottessohn?
Auf mich wirkt diese Erzählung, als habe Gott sich zum Schluß
erpreßbar gemacht. Ich muß nur fordernd genug auftreten, und
schon macht Gott, was ich will. Thomas hat es uns vorgemacht,
und Jesus gibt ihm nach. Doch was wir heutzutage jemandem
gern als Schwäche auslegen, zeigt nur, wie nachsichtig Jesus mit
dem zweifelnden Thomas umgeht. Und sind Nachsicht und
Barmherzigkeit nicht die herausragenden Eigenschaften Gottes?
Das überzeugt nun auch Thomas. Kein Wunder, daß er daraufhin
ein starkes Bekenntnis abgibt: „Mein Herr und mein Gott!“
So deutliche Worte hatte wohl nicht mal Jesus von Thomas
erwartet. Doch genau das ist es, was Jesus meinte, als er Thomas
aufgefordert hat: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“ Gläubig
sein heißt, in Jesus Gott erkennen und ihn als Herrn annehmen.
Das hätte wohl auch Johanna Haberer und Sabine Rückert
gefallen, als sie zu Ostern über die Frage nachdachten: Kann der
Mensch sich ändern? Denn Thomas hat sich geändert. Vom
ungläubigen Zweifler ist er zum bekennenden Gläubigen
geworden. Eine beeindruckende Geschichte und ein gefundenes
Fressen für bildende Künstler. In jedem Religionsbuch in der
Schule und in jedem Konfirmandenbuch findet sich die berühmte
Plastik von Ernst Barlach, die zeigt, wie Jesus den von seinen
Zweifeln kurierten Thomas in die Arme nimmt. Die Sache hat nur
einen Haken: An Thomas können wir uns kein Beispiel mehr
nehmen.
Denn ganz zum Schluß kanzelt Jesus seinen Jünger eben doch
ab. „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht
sehen und doch glauben.“ Bilde dir nichts darauf ein, heißt das.
Gleichwohl ist der Tadel für Thomas mein liebster Satz in der
ganzen Bibel – und das nicht aus Schadenfreude.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Dieser Satz
spricht mich an wie kein zweiter von Jesus. Da fühle ich mich ernst
genommen und gut aufgehoben. Denn ich bin nicht Thomas; wiralle sind nicht wie der zweifelnde Jünger. Seit zweitausend Jahren
haben wir keine Chance mehr, Jesus auch für uns noch einmal in
unsere Mitte zu rufen, damit er uns wie Thomas von seiner
Auferstehung im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich
überzeugt. Das ist endgültig vorbei, erzählt das
Johannesevangelium, macht euch nichts vor!
Müssen wir darum traurig sein? Haben wir nichts, woran sich
unser Glaube halten kann? Zu sehen gibt es jedenfalls nichts mehr
von Jesus. Warum das so ist, erzählt die Geschichte von seiner
Himmelfahrt. Doch zu hören gibt es umso mehr.
Darum ist der vom Zweifler zum Glaubenden gewordene
Jünger Thomas noch nicht aus dem Spiel, wenn es darum geht,
woran sich unser Glaube halten kann. Das beeindruckt mich nach
wie vor an diesem Schluß des Johannesevangeliums. Thomas
hatte zunächst die österliche Botschaft von den anderen Jüngern
gehört. Hätte er ihr doch nur Glauben geschenkt!
Genau an diesem Punkt stehen wir als weltweite Christenheit
seit zweitausend Jahren. Wir sind angewiesen darauf, daß andere
uns die Botschaft von Jesus überbringen. Wir können sie hören
und auch lesen. Daß wir Jesus nicht mehr sehen können von
Angesicht zu Angesicht, ist dann kein Nachteil mehr. Unser
Glaube hält sich an diese Botschaft und an nichts weiter.
Wenn wir dann uns zu Jesus bekennen können wie Thomas,
ist das ein echtes Geschenk und weder das Ergebnis von
handfesten Beweisen noch von einem festen Willen oder
tatkräftigen Entscheidungen. An dem Punkt liegen die beiden
auskunftsfreudigen Schwestern in ihrem Zeitungsartikel über das
Osterfest falsch. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“
Was als Ohrfeige für Thomas erscheint, öffnet in Wahrheit die
Gemeinschaft mit Jesus für alle Menschen zu allen Zeiten.
Dieser Satz ruft auch uns in Großheide immer wieder neu
zusammen als den Kreis der Menschen, denen dieser österliche
Glaube geschenkt wird, jeden Tag aufs neue. Darauf bilde auch
ich mir nichts ein, denn die Geschichte vom „ungläubigen
Thomas“ zeigt mir: Zweifel sind erlaubt, und Zweifler gehören mit
dazu. Aber diese Zweifel beseitigen kann nur einer: Gott selber
mit seiner Botschaft und mit seinem Heiligen Geist – und mit
nichts anderem. Beides gibt es geschenkt, und das ist gut so.
Können Menschen sich ändern? Sie können sich jedenfalls ändern
lassen von Gott, immer wieder neu.
Pastor Dr. Andreas Lüder