Nie mehr allein sein – Röm 14, 7-9
7 Keiner von uns lebt ja nur für sich allein, und keiner stirbt nur für sich allein. 8 Wenn wir leben, leben wir im Angesicht des Herrn; und wenn wir sterben, sterben wir im Angesicht des Herrn. Im Leben und im Tod gehören wir dem Herrn. 9 Denn Jesus, der Messias, ist gestorben und wieder lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende.
(Übersetzung: Klaus Berger/Christiane Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, 1999)
„Ich und mein Magnum“. Jahrelang war die Werbung für ein Speiseeis aus dem Fernsehen nicht wegzudenken: Eine attraktive junge Frau, sehr ansehnlich zurechtgemacht, räkelt sich bequem auf ihrem Sofa und erzählt davon, wie sie sich nach einem langen Arbeitstag entspannt. Nach Hause kommen, es sich bequem machen, den Stress des Alltags von sich abstreifen. Das paßt gut zur dunklen Jahreszeit, wenn wir es uns zuhause gemütlich machen.
Und dabei hilft am besten, so sagt es eine Stimme im Werbespot, ein unwiderstehliches Eis am Stiel. Nie würde die junge Frau auf dem Sofa ihr Eis mit jemandem teilen. Gute Frage: Wie sollte man ein Eis am Stiel auch aufteilen können? „Ich und mein Magnum“ haucht die junge Dame.
Ich und mein „Magnum“. Ich und mein Eis am Stiel zum Feierabend. Mehr bedarf es nicht um glücklich zu sein. So jedenfalls redet es uns die Werbung ein. Wer mag kein gutes Eis? Hat man sich das kleine Vergnügen nicht verdient, wenn man den ganzen Tag hart gearbeitet hat?
Doch diese Werbung im Fernsehen macht mich immer stutzig. Da freut sich eine junge Frau auf ihren Feierabend und wünscht sich nichts sehnlicher als ein Eis, das im Gefrierschrank schon wartet. Doch wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe und nach Hause komme, freue ich mich eigentlich auf meine Familie - meine Frau und meine Söhne. Alles Geschmackssache: Mein erster Gedanke richtet sich jedenfalls nicht zuerst auf ein Eis am Stiel.
Aber das ist nicht mehr das Lebensgefühl der meisten Menschen im jungen Erwachsenenalter. Für sie wird diese Eis-Werbung gemacht. Auf sie wartet niemand, wenn sie abends abgespannt vom Job nach Hause kommen. Keiner hört zu, wenn man von seinem harten Arbeitstag erzählen möchte. So bleibt nur das merkwürdige Selbstgespräch der jungen Frau auf dem Sofa und das Eis in ihrer Hand als süßer Ersatz für Zweisamkeit. „Ich und mein Magnum“ – sonst ist da niemand mehr. Keine Familie, kein Freund.
Immer mehr Menschen leben so, mehr oder weniger freiwillig. Man ist sich selbst genug und lebt als junger, dynamischer, erfolgsgewohnter Single allein in seinem kleinen Haushalt. Und die Werbung bestärkt dieses Gefühl. Sie zeigt uns, wie man sich dieses Leben als Einzelgänger bequem gestalten kann - wie man ganz für sich allein sein Glück findet.
Keiner von uns lebt nur für sich allein, schreibt der Apostel Paulus. Das hört sich ganz anders an. Doch mit seiner Meinung liegt er für heutige Verhältnisse ziemlich daneben. Für sich allein zu leben, nur sich selbst zu kennen und bei allem nur an sich selbst zu denken, an das eigene Fortkommen, notfalls auf Kosten all der anderen ringsherum, das ist doch das Lebensgefühl im 21. Jahrhundert.
Alles könnte so leicht sein, wenn da nicht manchmal Zweifel aufkämen. Nur die wenigsten Singles sind wirklich glücklich mit ihrer Situation. So heißt es immer wieder nach entsprechenden Umfragen. Da hilft auf Dauer auch kein Eis am Stiel als Ersatzlösung. Eigentlich sind wir doch auf der Suche nach dem Du, nach einem Gegenüber, das unser Leben teilt - erst recht wenn das Leben sich uns nicht nur von seiner Schokoladenseite zeigt. Lasten immer nur alleine schultern, Krisen ganz auf sich gestellt durchstehen – das ist keine angenehme Perspektive. Da wird das selbstgewählte Singledasein auch zur Last.
„Keiner von uns lebt ja nur für sich allein, und keiner stirbt nur für sich allein“: Was Paulus hier als selbstverständlich bezeichnet, das kennen wir zumindest noch als Wunschvorstellung. Wir suchen letztlich doch die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Doch auch wenn wir erfolgreich sind bei unserer Suche, bleiben wir merkwürdig oberflächlich, unverbindlich. Fällt es uns immer schwerer, unverstellte, tragfähige Beziehungen mit unseren Mitmenschen einzugehen? Bei alledem halten wir uns den anderen immer noch auf Distanz. Zu viel Nähe ist schon wieder verdächtig. Das reicht bis in unsere Partnerschaften und Ehen hinein.
Für Jugendliche ist es ganz selbstverständlich, sich einen möglichst großen Freundeskreis aufzubauen – allerdings nur bei Instagram oder TikTok im Internet. Wahre Freundschaft ist da nur durchs Smartphone vermittelt: als Eintrag in den sozialen Netzwerken. Daß man sich nachmittags nach den Hausaufgaben noch auf dem Bolzplatz zum Fußballspielen trifft wie zu meiner Jugendzeit – vorbei.
Wir suchen tragfähige Gemeinschaft, echte Beziehungen zu anderen Menschen, und scheitern doch daran. „Eine starke Gemeinschaft“ – auch so ein Werbespruch, der unsere Sehnsüchte anspricht. Mit diesem Spruch warb einmal ein Versicherungsunternehmen für sich. Aber in dieser Gemeinschaft bin ich nicht als Mensch gefragt, sondern als Kunde, der ordentlich seine Prämien zahlt und am besten nie einen Schaden verursacht. Ein Sinnbild für unser ganzes Leben. Überall werden wir allenfalls noch als Mittel zum Zweck gebraucht. Einfach nur einen Menschen mit Ecken und Kanten, mit Stärken und Schwächen braucht keiner.
Doch das muß nicht so bleiben. Es gibt ja auch Lichtblicke. Längst hat es sich herumgesprochen: Im Berufsleben spielen die sogenannten sozialen Kompetenzen eine immer größere Rolle. Wer sich um einen Job in einem großen Unternehmen bewirbt, wird immer öfter auch daraufhin geprüft, ob er mitmenschliche Qualitäten ins Unternehmen mitbringt. Ob er sich also auch für seine Mitarbeiter einsetzt und schlicht menschliche Wärme ausstrahlt. Als karrierefördernd gilt da schon, wenn man sich während der Ausbildung nebenher ehrenamtlich eingesetzt hat für gemeinnützige Zwecke, in der Feuerwehr oder in seiner Kirchengemeinde zum Beispiel - für seine Mitmenschen eben.
Da geht es dann schnell um tätige Nächstenliebe statt um gesunden Egoismus, der nur sich selbst genug ist. Wer zeigt, daß er auf Menschen zugehen kann, sich für sie interessiert und ihnen hilft, ohne gleich die Gegenleistung im Hinterkopf zu haben, der hat bei der Jobsuche oftmals die Nase vorn.
Vielleicht gibt es das also doch noch: Unverstellte menschliche Gemeinschaft, in der man sich aufeinander verlassen kann, in guten wie in schlechten Tagen. Jesus bietet uns solch eine Gemeinschaft an. Eine Gemeinschaft, die auch Belastungen standhält. Eine Gemeinschaft, die jeder vorbehaltlos in Anspruch nehmen darf. Bei Jesus sind wir gut aufgehoben und nicht gleich wieder reduziert auf unsere Nützlichkeit für andere.
„Wenn wir leben, leben wir im Angesicht des Herrn“, schreibt Paulus den Christen in Rom. Der gute Draht zu Christus bereichert unser Leben. Er gehört zum Leben einfach mit dazu. Mit Christus im Bunde lebt es sich leichter. Denn wir sind nicht mehr auf uns selbst zurückgeworfen. Auch wenn wir tatsächlich alleine leben, gewollt oder ungewollt, ist doch immer einer da, der zuhört, wenn wir uns des Tages Müh und Last von der Seele reden wollen. Jesus hört zu. Jedem. Immer. Das ist besser als jedes Eis auf dem Sofa nach Feierabend.
So weit, so gut. Doch Paulus geht noch weiter: „Wenn wir sterben, sterben wir im Angesicht des Herrn. Im Leben und im Tod gehören wir dem Herrn.“ Das erst stellt unser Leben auf wirklich festen Grund, ist er sich sicher.
Menschliche Beziehungen können auch wieder abreißen. Auch das gehört zum Leben dazu. Manche Beziehungen, die wir mühsam knüpfen, schlafen ein mit der Zeit. Kontakte zu Freunden aus der Schulzeit reißen ab. Man hat sich aus den Augen verloren.
Wieder andere Beziehungen, die uns lieb und teuer waren, gehen zu Bruch. Eheleute trennen sich. Familien müssen einen Angehörigen zu Grabe tragen. Da bleibt nichts als ein Gefühl der Ohnmacht. Eine Lücke ist aufgerissen, die sich so leicht nicht wieder schließen läßt. Die Erfahrung machtlos zu sein schlägt um in die Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen. Wir suchen nach einer Beziehung, die auch für den Tod unantastbar ist. Da muß doch etwas sein, was meine Trennungsangst, meine Furcht davor alleingelassen zu werden, überwindet. Solches Grübeln setzt uns gerade jetzt im November gewaltig zu.
Irgendwann steigt sie auf, diese Sehnsucht nach Stabilität in den Wechselfällen des Lebens. Sie beiseite zu drängen und stattdessen nur so in den Tag hinein zu leben, sich selbst zu genügen und gedankenlos durchs Leben zu schlittern, kostet uns eine Menge Kraft. Über kurz oder lang bringen wir soviel Kraft dann doch nicht mehr auf. Die Frage nach dem Warum und Wozu des Lebens jedoch kann nur Jesus selbst beantworten.
Und er tut das, indem er uns alle miteinander an die Hand nimmt und für jeden da ist. Auch für die Verstorbenen, zu denen wir keinen Kontakt mehr haben, so sehr wir uns das auch wünschen. Wen Jesus einmal an die Hand genommen hat, den läßt er nicht mehr los. Der ist bei ihm geborgen auf ewig, noch über den Tod hinweg. Das jedenfalls ist unsere Hoffnung.
Mit knappen Worten sagt Paulus hier, warum wir das hoffen dürfen, daß Jesus für einen stabilen Halt sorgt auch über den Tod hinweg. Das hat zu tun mit seinem eigenen Tod. Auch der Gottessohn Jesus Christus ist gestorben. Auch er war in Leid und Tod ein Mensch wie wir. Böswillige Menschen konnten selbst ihm etwas anhaben und trachteten ihm erfolgreich nach dem Leben. Doch mit seinem eigenen Tod hat Jesus gezeigt, was vom Tod zu halten ist: Er hat nicht das letzte Wort. Er ist nicht die finstere Macht, der wir in die Hände fallen, wenn unsere Tage auf Erden zu Ende sind und unseren Angehörigen nichts weiter bleibt als ein paar Erinnerungen.
Gott ist nicht ein Gott der Lebenden allein. Er herrscht nicht nur über uns, solange wir auf Erden leben. Gott ist nicht nur eine nette, aber im Grunde auch harmlose Bereicherung unseres Lebens. Das sagt allenfalls unser modernes Lebensgefühl über Religionen aller Art: Es kann nicht schaden, sich ein bischen religiös zu geben. Und für Moral und Anstand sind die Kirchen auch noch gut, trotz aller Skandale.
All das reicht mir nicht, schreibt Paulus. Gottes Macht will nicht nur diese Welt gestalten. Sie reicht noch weiter. Sie reicht auch ins Reich der Toten, wo Götter normalerweise keinen Zutritt haben, wie man zu Zeiten des Paulus glaubte. Noch die Christen in Rom, an die Paulus seinen letzten Brief schrieb, sahen sich dieser Vorstellung ausgesetzt: Gott kann wohl alles mögliche für die Menschen tun, solange sie leben. Aber wenn sie hinabfahren in das Reich der Toten, tief unter uns, dann ist es aus mit Gottes Macht. Dort hat auch kein Gott mehr etwas zu sagen. Das war der Glaube der Römer, aber auch der Juden.
Dem hält Paulus kühn entgegen: Jesus Christus ist nicht nur der Herr der Lebenden, sondern auch der Toten. Wie soll das gehen?
„Hinabgestiegen in das Reich der Toten“, haben wir gerade wieder von Jesus bekannt in unserem Glaubensbekenntnis. Warum eigentlich? Was hat Jesus bei den Toten zu suchen? Hätte er nicht gleich nach seinem Tod besser in den Himmel auffahren sollen zu seinem Vater? So wird es im Alten Testament gleich mehrfach erzählt von Henoch oder vom Propheten Elia.
Doch Jesus ist auch dazu gestorben, um eben zu all den Toten in ihr Reich hinabzusteigen und ihnen doch noch die Heimkehr zu Gott zu ermöglichen. Um dieses Reich ohne Wiederkehr, mit dem jedermann rechnete, zu entzaubern und den Graben zwischen den Verstorbenen und Gott zuzuschütten.
Diese Vorstellung war allen Menschen damals geläufig. Darum hat Jesus ihnen sein Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus erzählt. Lazarus wird nach seinem Tod in den Himmel in Abrahams Schoß getragen, während der reiche, unbarmherzige Mann in der Hölle schmoren muß bei all den anderen Toten.
Ein gewaltiges, beeindruckendes Bild für den innersten Kern unseres Glaubens. Jesus ist der Herr und Retter auch der Toten. In fast allen mittelalterlichen Kirchen hatten die Gläubigen dieses Bild ganz plastisch vor Augen. Denn das Altarbild zeigte immer auch, wie Jesus nach seinem Tod zum Reich der Toten hinabsteigt, ganz so wie im Glaubensbekenntnis ausgesagt. Manchmal nur ganz klein gemalt am Fuße des Kreuzes, an dem Jesus stirbt. Dort unten aber öffnet er das Tor zur Hölle. Dahinter warten die Toten schon sehnsüchtig auf ihn. Oft hat Jesus dabei in der einen Hand den Schlüssel zu diesem Tor, während er in der anderen Hand die weiß-rot gestreifte Fahne des Siegers hält - des Siegers über seinen eigenen Tod wie über die Pforte zur Hölle, durch die es sonst keine Wiederkehr gibt.
Großartige, tröstliche Bilder, die man heute noch in so manchen Kirchen betrachten kann. Niemand brauchte mehr Angst zu haben vor dem Tod und vor dem, was danach kommt. Denn auch dann würde keiner allein sein, vergessen von Gott und der Welt. Jesus hat damit Schluß gemacht; er kümmert sich selbst noch um die Toten. Er gibt keinen verloren, im Gegenteil: Er holt die Toten heim zu sich und zu seinem Vater im Himmel.
Was wir mehr schlecht als recht beschreiben können, das trauten sich die Maler längst vergangener Jahrhunderte noch in Bildern darzustellen. Vielleicht war das auch am besten so, das Unanschauliche, Unfaßbare unseres Glaubens doch anschaulich zu machen - selbst wenn unser kritischer Verstand uns heutzutage sagt, daß man solche Darstellungen nicht für bare Münze nehmen darf.
Jesus ist der Herr der Lebenden wie auch der Toten: Wie immer man sich das vorstellt - dies ist unser Trost gerade wenn wir in diesem nebligen, düsteren Monat an die Gräber unserer Verstorbenen treten. Keiner von uns lebt ja nur für sich allein, und keiner stirbt nur für sich allein, solange er Jesus an seiner Seite weiß. Dann brauche ich meine Hoffnungen auch nicht an ein Eis am Stiel zu binden.
Pastor Dr. Andreas Lüder