Das Beste kommt noch – 2 Kor 4, 14-18
14 Wir wissen, daß der, welcher den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und mit euch vor sich stellen wird. 15 Denn das alles geschieht um euretwillen, damit die Gnade wachse durch eine immer größere Zahl der Gläubigen und die Danksagung überreich mache zur Ehre Gottes. 16 Deshalb verzagen wir nicht, sondern wenn auch unserer äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch unserer innerer von Tag zu Tag erneuert. 17 Denn die nur gegenwärtige leichte Last unserer Trübsal schafft uns in nicht endender Überschwenglichkeit eine ewige Fülle an Herrlichkeit, 18 die wir nicht das Sichtbare, sondern das Unsichtbare in den Blick nehmen. Denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare aber ewig.
(Übersetzung: Rudolf Bultmann, 1987)
„Ich will so bleiben, wie ich bin!“ Erinnern Sie sich noch an diesen Werbeslogan einer Lebensmittelfirma? Dabei geht es natürlich nur um das Schlankheitsideal: Dicker werden will sicher niemand. Darum sollen wir Diätprodukte kaufen.
Doch alles andere soll nicht so bleiben, wie es ist. Es soll ständig neu sein, soll sich jederzeit ändern können. Unser ganzes Leben soll sich nicht in einem täglichen Einerlei wiederholen, sondern jeden Tag von neuem spannend sein.
Schon vor einigen Jahren erschien dazu ein Buch des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Richard Sennett mit dem Titel „Der flexible Mensch“. Dieser Buchtitel ist sprichwörtlich geworden für das, was fast jeder täglich erlebt, nicht nur im Beruf: stets flexibel sein. In den USA haben es viele Menschen bereits akzeptiert, daß sie im Laufe ihres Lebens mehrfach für eine neue Arbeitsstelle umziehen müssen. Die damit verbundenen Veränderungen ihres äußeren Lebens nehmen sie mit Gleichmut hin: Hausverkauf, ein neuer Freundes- und Bekanntenkreis usw. Aber ihr inneres Leben verkümmert dabei, hat Richard Sennett festgestellt.
Es ist erstaunlich, worauf sich Menschen äußerlich immer wieder neu einstellen können. Aber innerlich können sie nicht Schritt halten. Sich immer wieder an neue Anforderungen am Arbeitsplatz gewöhnen, an neue Kollegen und an eine neue Nachbarschaft, das kann einen in seinem Innersten schon mürbe machen. Und hat man sich erst einmal mühsam eingearbeitet und eingelebt, weiß man nie, wie lange das gut geht. Vielleicht heißt es schon bald wieder, die Zelte abzubrechen.
Davon erzählte neulich im Radio eine junge Krankenschwester, die als Honorarkraft von einer Klinik zur anderen wechselt und dabei eigentlich nur noch aus dem Koffer lebt. Damit verdiene sie eine Menge Geld, komme aber nie zur Ruhe, lautete ihr Fazit. Da nützt auch der Wohlstand wenig.
Der jugendliche Spaß daran, alles auszuprobieren, dauernd etwas zu ändern im eigenen Leben und keine Gelegenheit auszulassen, schlägt so auf die Dauer um in Rastlosigkeit und fehlendes Selbstvertrauen. Dann stellen sich bohrende Fragen: Wer bin ich eigentlich, wenn womöglich sogar egal ist, welchen Beruf ich mal gelernt habe? Worauf stütze ich eigentlich noch mein Selbstbewußtsein, wenn meine langjährige Erfahrung nicht mehr gefragt ist? Schnell geht dann das Vertrauen verloren - das Vertrauen zu sich selbst und das Vertrauen in das ganze Leben.
Was Richard Sennett an amerikanischen Durchschnittsmenschen zeigt, ist auch bei uns schon weiter verbreitet als viele denken. Unter den wirtschaftlichen und sozialen Erklärungen für dieses Verhalten fand ich auch einen Gedanken, der mir wichtig geworden ist. Der Sozialwissenschaftler aus den USA hat nämlich auch herausgefunden: Menschen, die fest in einer Religion verwurzelt sind und daraus ihr Selbstvertrauen gewinnen, lassen sich viel weniger beunruhigen von solchen wechselhaften Lebensbedingungen. Auch wenn sie dauernd genauso gefordert sind wie andere Menschen ohne religiöse Bindung, stehen sie all das doch besser durch.
Das ist es, was auch schon der Apostel Paulus den Christen und Christinnen in Korinth vor Augen führen wollte. Unser aller Leben ist nun einmal wechselhaft. Ständig sind wir in Gefahr, aus dem Tritt zu geraten. Wie ist das, wenn ich eine Krankheit nur mühsam überstehe oder wenn ich einsehen muß, daß ich meinen Traumberuf wohl doch nie bekomme? Wenn ich das Gefühl habe, im Leben bereits Chancen verpaßt zu haben, die sich mir kein zweites Mal bieten werden? Kriege ich mein Leben noch in den Griff?
Wenn solche Zweifel an mir nagen, bin ich froh und dankbar, daß Gott uns zugesagt hat: Egal wie wechselhaft unser Leben verlaufen mag, egal wieviele Rückschläge wir einstecken müssen, er ist für uns da. Tag für Tag begleitet er uns, an jedem Morgen neu. Was auch immer von außen uns bedrängen mag, unser Innerstes soll davon nicht zerstört werden. Unsere Seele bleibt davon unberührt.
Unser Leben geht einmal zu Ende. Für manch einen bringt es je länger desto mehr tatsächlich die Trübsal mit sich, von der Paulus in seinem Brief schreibt. Manchmal erzählen mir Leute, mit welcher inneren Unruhe ihre Angehörigen im ganz hohen Alter verstorben sind. Eine Tortur war das auch für alle, die das noch miterlebt haben. Zum Ende hin mündete alles in große Trübsal.
Aber unser Leben bleibt nicht einfach nur ein Bruchstück, das wir nicht fertig gebaut haben. Hätten wir einfach noch länger daran arbeiten müssen, bis es vorzeigbar geworden wäre? Irgendwann ist es vorbei.
Von diesem Drang will Gott uns frei machen. Vom Drang, immer noch mehr aus unserem Leben zu herauszuholen, weil wir eigentlich stets noch nicht zufrieden sind mit uns. Denn diese Rastlosigkeit läßt uns letzten Endes verzweifeln - an uns und am Leben schlechthin. Das will Gott verhindern. Er gibt unserem Leben eine Perspektive, noch ehe wir daran gehen können, unsere selbstgesetzten Perspektiven auch nur ansatzweise zu verwirklichen und schließlich doch an unserem Wunschbild von uns selbst zu scheitern.
Täglich will Gott uns das zusprechen: Ich bin da. Auch diesen Tag kannst du ganz frisch beginnen und nicht von Müdigkeit gebeugt, selbst wenn dir wieder nicht alles gelingt.
Das trägt. Es trägt uns durch unser Leben, und es trägt auch, wenn wir erkennen müssen, daß unser aller Leben ein Ende hat. Auch dann hat Gott uns eine Perspektive geben, eine Perspektive über den Tod hinaus. An seinem Sohn Jesus Christus hat er sie aller Welt vor Augen geführt. Das Ende des Lebens trägt nicht das Scheitern in sich, über das man nur verzweifeln kann. Auch am Ende unseres Lebens sind wir geborgen in Gott. Denn Gott verheißt uns die Auferstehung, nicht zu einem weiteren, wiederum endlichen Leben, sondern zur endgültigen, end-losen Geborgenheit bei ihm.
Darüber zu sprechen fällt uns zunehmend schwer. Denn es paßt nicht zu einem Leben, in dem alles machbar erscheint. Erst recht fällt es uns schwer, dieses Leben rundweg als Trübsal zu bezeichnen und die versprochene Herrlichkeit erst von einem zukünftigen Leben nach dem Tod zu erwarten, wie es der Apostel Paulus den Korinthern mit seinen Worten nahelegt. Früheren Generationen ging das noch leicht über die Lippen. Aber ihre hoffnungsfrohen Kirchenlieder sind aus dem Gesangbuch weitgehend verschwunden. Zu sehr möchten auch wir doch lieber ganz der Gegenwart vertrauen.
Auch wir Christen wollen im Hier und Jetzt leben. Wir wollen nicht nur freiwillig ein freudloses, entsagungsvolles Leben fristen in der Hoffnung, daß es uns dafür in einem Leben nach dem Tode wirklich gut gehen wird. Wie oft sind Christen dafür gescholten worden, daß sie sich von einer Hoffnung tragen lassen, die das sichtbare, das äußere Leben übersteigt - aber doch nicht nachzuweisen ist. All das sei nur billige Vertröstung, so halten uns die Spötter entgegen.
Und doch ist dies das Kennzeichen der Christen seit Anbeginn, seit Ostern vor zweitausend Jahren: Daß sie „zwischen den Welten wandern“, wie ein Theologe unserer Tage sein Buch über die bescheidenen Anfänge der christlichen Gemeinden am Ostrand des Mittelmeeres vor 2000 Jahren treffend überschrieben hat: „Zwischen den Welten wandern“, zwischen der irdischen und der himmlischen Welt.
Einerseits lebten die ersten Christen wie alle anderen, wie Juden und Heiden, ganz bewußt in der von den Römern beherrschten Welt. Sie grenzten sich gegen niemanden ab und wanderten auch nicht in unbewohnte Gegenden aus. Sie teilten das damalige Leben mit seinen Veränderungen und Gefährdungen, mit seinen schönen und weniger schönen Seiten. Aber all das vermochte sie nicht vollkommen in Beschlag zu nehmen. Es konnte sie auch nicht zermürben wie all die kleinen und großen Rückschläge im Leben, die verpaßten Chancen und die Sackgassen, in die jeder mal gerät. Denn die Christen wußten: Es ist nicht diese Welt allein, in der wir unserem Leben mühsam einen Sinn geben müssen und aus der wir am Ende ins Nichts verschwinden.
Es gibt eine zweite Welt, eine Welt bei Gott, in die Christus uns vorangegangen ist durch seinen Tod und seine Auferstehung hindurch. Noch ist sie nicht sichtbar. Noch können wir uns nicht in sie zurückziehen, wenn uns hier alles zuviel wird. Daran ändert nicht mal der neuerdings erlaubte Konsum von Drogen wie Cannabis etwas.
Noch wandern wir in dieser Welt und unterliegen ihren Gesetzen. Noch setzen vielerlei Veränderungen im Leben, beispielsweise der wieder möglich gewordene Krieg in Europa genauso wie der Umbau unserer Kirchengemeinden, den „flexiblen Menschen“ von allen Seiten unter Druck. Aber zermürben muß uns das nicht; denn wir wandern in dieser Welt einer zweiten entgegen. Dort warten nicht mehr immer neue Irrungen und Wirrungen auf uns, sondern allein Gott. Und das verheißt er uns täglich neu, damit wir dieses Leben getrost führen können, auch wenn wir nicht immer Herr unserer selbst sind und dem Wandel in dieser Welt stets hinterherhecheln.
So manche Veränderung im Leben wünschen wir uns herbei, damit es nicht langweilig wird. Wer läuft schon gerne ewig in den immer gleichen Klamotten herum? Wieder andere nehmen wir zähneknirschend hin wie die ersten grauen Haare. Bei alledem steht Gott uns bei und verheißt uns den letzten großen Wandel, wenn wir bei ihm geborgen sind auf immer und ewig. Ein Freund von mir, der vor ein paar Jahren mit über neunzig verstorben ist, sagte bei jeder Gelegenheit: „Das Beste kommt erst noch!“ Er meinte damit die himmlische Gemeinschaft mit Gott und seinem Sohn Jesus. Mit diesem Ausblick hat er sein langes Leben geführt und war mit allem stets zufrieden.
Pastor Dr. Andreas Lüder